Kolumne Berliner Zeitung 2

„Mein Mann (43, Lukas) und ich (38, Anna) sitzen seit Anfang der Pandemie im lockdown. Wir streiten uns viel, die Distanz fehlt. Ich bin kurz davor mich zu trennen. Sollte ich das Ende der Pandemie abwarten, bis wir wieder Distanz haben und ich einen klaren Kopf? Oder muss ich davon ausgehen, dass ich nun sein wahres Gesicht kennengelernt habe?“

 

 

Liebe Anna,

Die Frage scheint mir zu sein: Ein Geisterfahrer? Oder Hunderte? Was ist die Wahrheit? Eure hoffentlich schöne Zeit vor dem Lockdown oder „sein wahres Gesicht“ jetzt? Etwas provokant frage ich, ob es vielleicht auch „Dein wahres Gesicht“ ist, das sich hier zeigt. Es ist wie mit den Paaren, die in meine Praxis kommen und sich wieder furchtbar gestritten haben: Ist die Wahrheit der Streit oder die Zeit dazwischen, bei euch die schöne Zeit davor? Wie stellen die Paare diesen „Scheinwerfer“ auf? Welche Schatten wollen sie werfen? Fast jeder, der sein eigenes Streitverhalten ab der zweiten Eskalationsstufe auf einem Video ansehen müsste, würde sich schämen und sagen: „Oh – ne – sorry – weiß auch nicht – mach das bitte aus“. Vielleicht gilt das auch für euer pandemiebedingtes Verhalten. 

Die Pandemie – und das dadurch bedingte zusammen rumhocken – bringt bei vielen, wie unter einem Brennglas auch feinste Konturen gegenseitiger Verärgerung mit gleichzeitiger Langeweile zum Vorschein. Alles scheint unangenehm bekannt, nichts scheint sich zu verändern. Manchmal ist es wie eine Horrorversion von dem Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Ihr kommt nicht zueinander und ihr kommt nicht voneinander weg. Alles scheint zu Streit zu führen – nichts zu Frieden und Geborgenheit. Schon bevor du morgens die Augen aufschlägst, verspannst du Dich.

Was fehlt? Was ist zu viel? Wie habt ihr das vor der Pandemie geschafft? Was taucht jetzt zwischen euch auf, dass du sogar über Trennung nachdenkst? Es ist ein bisschen, wie wenn zwei zusammenziehen müssen, die sich vorher in getrennten Wohnungen oder einer Fernbeziehung sehr gut verstanden haben. Alles, was Du vorher nicht zeigen oder aushandeln musstest, weil du es bei Dir zu Hause oder in Deinem Nicht-Beziehungs-Leben ausbalancieren konntest, braucht jetzt Platz in Deiner zwangs-engen Beziehung. Es sind oft die kleinen schamhaften Bedürfnisse oder Abneigungen, die jetzt ausgesprochen werden müssen. Vielleicht gefällt Dir seine Art sich die Zähne zu putzen nicht wirklich, oder er findet Dein Nachthemd eigentlich zu kindlich? Ist es schon Liebesentzug, nicht die gleiche Serie zu mögen? Und ist es dann ein Liebesbeweis, sie dennoch zusammen zu gucken? Darfst du Dich mal nicht für Deinen Partner interessieren, auch wenn ihr zusammen esst? Fenster auf im Schlafzimmer – oder zu? Wie handelt ihr das aus? Dürft ihr nebeneinander im Bett liegen, ohne das es erotisch knistert? Dürft ihr auch langweiligen Sex haben? 

Traut ihr euch nicht, euch das selbst einzugestehen und auch einiges davon anzusprechen, wird der andere schnell zu einem großen Ärgernis. Seine bloße Anwesenheit erinnert Dich unangenehm an diese innere Verspannung aus Nicht-Wissen-Wollen, der Scham davor dennoch genau so zu fühlen und Deiner Scheu es auszusprechen. Der Trennungsgedanke ist der hilflose Versuch diese innere Spannung im außen zu lösen. Du liebäugelst damit den Überbringer der schlechten Nachricht zu erschießen. 

Wie lange seid ihr schon zusammen? Habt ihr Kinder? Oder wünschst Du Dir welche? Du bist 38, Dein Mann ist 43. Du bist in einem Alter, in dem sich die meisten mit einem Partner zusammengetan haben, der fürs Leben halten soll. Wie ist das bei Dir? Vielleicht ist der ganze Ärger Deine Angst davor mit Lukas den nächsten Schritt zu wagen, und die  Pandemie ist nur der Geburtshelfer für diese Entscheidung.

Wie immer an dieser Stelle, meine Binsenweisheit: Sprechen hilft! Zeit hättet ihr wohl. Sprecht über eure Scham auch kleine Grenzen und kleine Dinge liebevoll auszuhandeln. Sprecht über die letzten Jahre, sprecht über die nächsten Jahre, sprecht über eure Langeweile. 

Vielleicht kommt ihr euch dabei viel näher als gedacht und als bisher. Vielleicht seid ihr auch wirklich die Falschen füreinander.